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Über den Missbrauch in den kantonalen IV-Stellen

Welche Hürden birgt unser Invalidenversicherungssystem für Betroffene und welche Rolle spielen dabei die kantonalen IV-Stellen? Im Interview erklärt Thomas Bauer, Leiter Sozialpolitik von Travail.Suisse der Syna, wo die Invalidenversicherung noch Mängel und Verbesserungspotential aufweist.

Von Mitgliedern der Syna Deutschfreiburg hören wir öfters Beschwerden über die Wiedereingliederung durch die kantonalen IV-Stellen und die Prozesse der IV-Rentenprüfung. Was ist da los?

Thomas Bauer: Es gibt seitens der Invalidenversicherung zwei Formen von Missbrauchsfällen, die momentan auch auf Bundesebene geprüft werden. Beide Probleme entstehen in der Umsetzung der Invalidenversicherung, in der Missbräuche entstehen können. Die kantonalen IV-Stellen, die die Rentenabklärungen durchführen, müssen sich offenbar an Leistungsziele des Bundesamt für Sozialversicherungen halten. In diesen Leistungszielen wird den jeweiligen kantonalen IV-Stellen vorgegeben, ob sie für das kommende Jahr weniger oder höchstens gleich viele IV-Renten sprechen dürfen. Für eine Versicherung sind solche Leistungsziele völlig absurd. Sie haben nichts mit der Gesundheit und dem tatsächlichen Anspruch von Antragsteller*innen der IV-Rente zu tun. 

Was tun die kantonalen IV-Stellen um die Leistungsziele des Bundesamts für Sozialversicherungen zu erreichen?

Thomas Bauer: Eine Strategie war dabei vermutlich das Konsultieren der immer gleichen Ärzte für Gutachten, von denen man vermutet, dass sie Gutachten erstellen, die gegen eine Invalidität sprechen. Seitens des Bundesrates ist die Problemanerkennung eines möglichen Missbrauchs durch die IV-Stellen nun gelungen. Derzeit sind auf Bundesebene zwei Gutachten im Gange, um diesen Missbrauch der IV-Stellen und die Problematik rund um die Gutachten der IV-Ärzte zu prüfen. Im Herbst werden wir hoffentlich mehr wissen. 

Dann hoffen wir auf baldige und aussagekräftige Gutachten, die mehr Licht in die Arbeitsweisen der IV-Stellen bringen werden. Wie müssten denn die Leistungsziele gesetzt werden, damit sie der IV als Versicherung gerecht werden?

Thomas Bauer: Leistungsziele sind meiner Meinung nach immer vorsichtig anzuwenden. Aber wenn schon Leistungsziele eingesetzt werden, dann bei einer nachhaltigen Wiedereingliederung. Das Leistungsziel sollte sein, wie viele Personen eine IV-Stelle in den ersten Arbeitsmarkt wiedereingegliedert hat. Mit einem solchen Leistungsziel tauchen dann neue Herausforderungen auf. Denn man müsste für einen Vergleich der IV-Stellen nach der Schwere der Fälle unterscheiden, um sie gerecht und nach regionalem Kontext bewerten zu können.

So viel zum politischen Handlungsbedarf der IV-Rentenabklärungen. Gibt es noch weitere Aspekte, die verbesserungswürdig sind? 

Thomas Bauer: Der Missbrauch durch die IV-Stellen ist eine Sache, die klar nicht sein darf. Auf der anderen Seiten gibt es eine Ungleichbehandlung durch die Methode der IV-Rentenberechnung. Die IV berechnet die Rente bei zuvor erwerbstätigen Personen nach dem Prinzip der Wirtschaftlichkeit. Sie prüfen, welches Einkommen eine Person vor der Invalidität und nach der Invalidität auf dem Arbeitsmarkt erzielen konnte. Die Differenz davon entspricht dem Invaliditätsgrad. Problematisch ist dies für Personen mit geringem Einkommen, die noch arbeitsfähig sind. Weil die Differenz der ohnehin tiefen Einkommen nicht der mindestens angeforderten 40%igen Invalidität entspricht. Damit sind Arbeitnehmende aus Branchen mit tiefen Löhnen und einer vergleichsweise hohen Invalidität wie der Baubranche, dem Gastgewerbe oder der Industrie besonders betroffen.

«Lange haben wir nur über den Missbrauch seitens IV-Bezüger*innen gesprochen. Heute ist es möglich, über den Missbrauch von der Seite der IV-Stellen zu reden, was einen wichtigen Paradigmenwechsel einläutet.»

Thomas Bauer, Leiter Sozialpolitik Travail.Suisse

Wie könnte man die Berechnungsmethode gestalten, um Personen mit tiefen Einkommen nicht systematisch zu benachteiligen?

Thomas Bauer: Die Berechnungsmethode ist so gewählt, weil das Einkommen an sich versichert ist. Die Frage ist, ob man etwas anderes als das Einkommen versichern und die Bestimmung der Invalidität daran messen sollte. Bei Personen ohne Erwerbstätigkeit beurteilt man zum Beispiel, welche Haus- oder Care-Arbeit sie vor einem Unfall erledigen konnten. So wird berechnet, wie hoch der Anteil davon ist, den man nach dem gesundheitlichen Vorfall nicht mehr erledigen kann um den Invaliditätsgrad zu bestimmen. 

Wie kann es sein, dass wir in der Schweiz gerade Personen mit tiefen Einkommen benachteiligen? 

Thomas Bauer: Das Bundesamt für Sozialversicherung rechtfertigt diese Ungleichbehandlung dadurch, dass das Einkommen versichert ist. Ist dieses Einkommen tief, zahlen die Arbeitnehmenden entsprechend weniger in die Invalidenversicherung ein. Zudem haben wir in der Industrie sowie dem Bau- und Gastgewerbe schweizweit relativ viele IV-Fälle im Vergleich zu anderen Branchen. Die Ursache liegt darin, dass diese Arbeitnehmenden auch körperlich schwer arbeiten und einem höheren Unfallrisiko ausgesetzt sind. Dazu kommt der Einkommensstress, teilweise schwierige Familienverhältnisse oder ein tiefes Bildungsniveau, die die Anfälligkeit für psychische Erkrankungen erhöhen und damit auch wieder das Invaliditätsrisiko. Das sieht man auch daran, dass Personen mit einer tertiären Bildung weniger wahrscheinlich zu IV-Rentner*innen werden, als Personen mit einem tieferen Bildungsniveau. 

Oft resultiert aus den Abklärungen, dass für Betroffene eine sogenannte «angepasste Erwerbstätigkeit» möglich ist. Wie sinnvoll ist diese Herangehensweise?

Thomas Bauer: Grundsätzlich finde ich das Ziel, die Personen wieder im ersten Arbeitsmarkt zu integrieren, richtig. Es kann nicht das Ziel sein, dass möglichst viele Menschen eine IV-Rente beziehen. Die Frage ist aber, ob es diese Arbeitsplätze denn überhaupt gibt. Eine Wiedereingliederung ist extrem schwierig und man ist trotz vielen Anreizen, unter anderem Eingliederungszuschüsse, sehr auf den Goodwill des Arbeitgebers angewiesen. Die Bereitschaft von Arbeitgebenden, Personen mit gesundheitlichen Einschränkungen einzugliedern, ist oft leider niedrig. Die Erfolge sind bescheiden, wie Zahlen des Bundesamts für Statistik zeigen. Die IV-Reform schafft nun aber ein neues sozialpartnerschaftliches Instrument (Artikel 68sexies IVG ). Es sieht vor, dass der Bundesrat eine Zusammenarbeitsvereinbarung zwischen den Dachverbänden der Arbeitswelt abschliesst, mit dem Ziel die Integration von Menschen mit einer Behinderung zu verbessern. Es geht darum, einen Mittelweg zwischen gesetzlichem Zwang und Freiwilligkeit bei der Einstellung von Menschen mit einer Behinderung zu finden. Beides ist aus der Sicht von Travail.Suisse nicht zielführend. Deshalb ist dieser sozialpartnerschaftliche Ansatz vielversprechend. 

Wenn du morgen eine neue IV-Reform einführen und du alleine über deren Inhalt bestimmen könntest: Was würdest du ändern?

Thomas Bauer: Das ist eine sehr schwierige Frage. Sicher muss der Missbrauch seitens der IV-Stellen angegangen werden. Lange haben wir nur über den Missbrauch seitens IV-Bezüger*innen gesprochen. Heute ist es möglich, über den Missbrauch von der Seite der IV-Stellen zu reden, was einen wichtigen Paradigmenwechsel einläutet. Die Arbeitsintegration sollte in ihren Instrumenten ausgebaut werden, damit die Arbeitgebenden vermehrt in die Pflicht genommen werden. In den vergangenen Jahren ging es vor allem darum, dass die Invalidenversicherung nicht abgebaut wird. Es war immer eine Abwehrschlacht, um bisher Erreichtes nicht zu verlieren. Das Ziel der IV ist klar: sie muss Menschen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen ermöglichen finanziell und sozial ihr Leben selber zu bestreiten. Ist dies nicht möglich, muss sie ihnen ein würdiges Auskommen ermöglichen und entsprechende Hilfestellungen bereitstellen. Versicherten Personen mit einer gesundheitlichen Beeinträchtigung muss der Gang zur Sozialhilfe erspart bleiben, auch wenn sie zuvor tiefe Einkommen erzielt haben.

Möchtest du Personen, die sich gerade in einer IV-Rentenabklärung oder -Wiedereingliederung befinden einen Tipp mit auf den Weg geben?

Thomas Bauer: Es ist wichtig, sich von Beginn an mit einer Rechtsberatungsstelle in Verbindung zu setzen. Das kann eine Gewerkschaft oder ein Behindertenrechtverband wie zum Beispiel Pro Cap sein. Dieser Austausch ist wichtig, um die eigenen Rechte und Möglichkeiten zu kennen und die Geduld in diesem langen Prozess nicht zu verlieren. Es ist diesem bürokratischen Prozess wichtig, eine kompetente Ansprechperson an seiner Seite zu wissen.

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